Heute habe ich das erste Mal eine Demonstration erlebt. Gewiss, es war keine große Demo, aber allein die Tatsache, dass es sie gab, ist berichtenswert.

Wir waren gerade mit dem Auto unterwegs, als wir vor einem Fußgängerüberweg halten mussten. Ein Zebrastreifen ist eigentlich kein Grund in China anzuhalten. Aber hier standen ca. 50, vielleicht auch 60 bis 70 Leute von der einen auf der anderen Seite. Erst dachten wir, es handelt sich um Schaulustige. Aber es war kein Unfall zu erkennen. Und der einzelne Polizist, der Leute ansprach, wurde nicht gehört. Einige hatten auch Stühle dabei und setzen sich auf die Strasse. Transparente gab es keine. Unserem Fahrer wurde es unangenehm, er wendete schnell. Von unserem Büro, welches ca. 200 Meter weit weg ist, konnte ich aber noch ein paar Blicke erhaschen. In der Zwischenzeit hatte sich der Stau auf beiden Seiten sicher 300 bis 400 Meter aufgestaut, man stand vom 4ten Ring abwärts. Weitere Polizei war noch nicht gekommen. Unter uns Ausländern im Büro entstanden Diskussionen. Handelt es sich um Menschen, deren Häuser abgerissen werden sollen? Oder was war sonst los? Die chinesischen Kollegen interessierte es eher nicht. Oder sie wollten nicht mit Sympathie für die Demonstranten Partei zeigen. Eine meinte, es sei unverschämt, anderen Leuten wird im Stau die Zeit geklaut. Und überhaupt, wenn da jetzt ein Krankenwagen nicht durchkommt. Ein anderer, den ich fragte, was nun passiert, meinte, nun kommt bald die Polizei und löst “das Problem”. Allerdings weiß ich nicht, ob das ehrlich oder zynisch gemeint war. Da er eine schlechte englische Aussprache hat, verstand ich erst einen anderen Satz von ihm nicht. Er sprach von der “criminalist party”. Ich dachte erst, er meint die Demonstranten – aber er hatte nur genuschelt, er meinte “communist party”. Als ich ihm mitteilte, was ich verstanden hatte, musste auch er lachen.

Angeblich gibt es solche Massenaufläufe täglich hundertfach in China. Natürlich nicht bestätigt von der staatlichen Nachrichtenagentur. Ich drücke die Daumen, dass die Demonstranten etwas verändern – und nicht verhaftet werden.

Leo.